Peter Bouscheljong | Die Verweigerung oder Anmerkungen zu “communismus der geister/dokumente #1 – #3”

 

1 A
Lass die Welt zugrunde gehen [M. Duras // press kit, Les Films
Molière, 1977, fonds Jean-Pierre Joncolas, archives de la Section
d’histoire et
esthétique du cinéma, Université de Lausanne]. Man
muss die Kraft zur totalen Kritik, zur Verweigerung, zur
verzweifelt sinnlosen Anklage aufbringen. Es gibt keine
politische Lösung, die uns wesentlich berücksichtigen würde.
1 B
Zwecklos noch an ein planetarisches, ökologisches
Gleichgewicht zu glauben. Weil uns ein falsches Denken
und Verständnis im Wege steht.
1 C
Machen wir uns nichts vor. Man muss den Mut besitzen,
an nichts zu glauben. Sich frei machen von jeder
Form von Verzweiflung.
1 D
Die eingeschlagene (vorgebene) Umlaufbahn verlassen.
Die Funktion der Distanzierung vom Realen. Eine Art
organischer Widerstand.
1 F
Gegen eine konformistische Korrektheit.

2
Man schreibt über alles. Über alle möglichen Arten des
Untergangs. Man greift ein, wird einbezogen. Von seinen
Freunden. Seinen Feinden [die Konzepte der Feindschaft
bei Tiqqun, J.-L. Nancy oder J. Derrrida, der in Politiques de
l’amitié daran erinnert, dass wir ohne Feind nicht in der Lage
sind, unser Selbst zu denken, ein Sein, das sich nur durch und
mit einem Anderen begreifen läßt]. Man schreibt nicht für
jene, die die Literatur lieben. Man darf nicht einen
Gedanken daran verschwenden. Das denke ich.

3 A
Man muss sich von allem befreien. Sich selbst auslöschen.
Die Vorwände pulverisieren, dieses oder jenes zu tun. Oder
nicht zu tun. Zu lieben. Zu schreiben. Zu leben. Nicht zu leben.
3 B
No more poetry. Die Dunkelkammer eines Gedankens/eines
Textes.
3 C
Der Text muss eine gewisse Desorientierung hervorrufen, damit
er nicht als Poesie gelesen wird.

4
Die Illusionen der Literatur sind nutzlos. Die Literatur ist erschöpft.
Sie bezieht Stellung, kämpft, sucht nach Auswegen. Sinnlos, sich
davon etwas zu erhoffen.

5  A
Es ist geradezu schockierend, jemanden zu hören, der die
Wahrheit sagt. Weil es so selten vorkommt.
5 B
»Wie wird man für sich selber etwas, das man sich vorstellt?«
Jean-Luc Nancy: L’Intrus

6
Wir können verzichten auf die Rechenschaftsberichte, die
Prognosen, die neuen Zielsetzungen. Wir verzichten auf
Weiss- und Schwarzbücher, Manifeste und Losungen, die
Versprechen, Enzykliken, Bitt- und Dankschriften, Träumereien
und Diarien.

7 A
Es ist das andere Sehen (das Andere sehen). Das des
Unvorstellbaren. Die Bilder, die ich im Kopf habe, sind ganz
davon durchdrungen. Nur weil meine Poesie nicht als Poesie
gesehen wird, kann ich überhaupt erst Poesie schreiben. Aber
die Poesie befindet sich noch immer in einem toten Winkel. Es
geht nicht um eine Literatur des Widerstands, als vielmehr um
eine der Ablehnung, eine Literatur der Verweigerung, Verachtung.
7 B
Angélica Liddell, die sich ihre Genitalien über einem Bidet
wäscht und das Wasser gegen die Wand des Papstpalastes
in Avignon schleudert. [Festival d’Avignon, 29. Juin 2024;
DÄMON: El Funeral de Bergman]
7 C Liddell erzählt, dass Bergman seinen Dämonen Namen
verlieh, um sie identifizieren zu können, sie an den
Geschlechtsteilen zu packen, ihnen den Finger in den
Hintern zu stecken.

8 A
Die Poesie hält die Luft an. Verbannt das Imaginäre. Vernichtet
die Quellen. Schreibt sich in ihren eigenen Untergang. Schreiben
hat sehr viel mit Machtlosigkeit zu tun.
8 B
Das kritische Bewußtsein der poetischen Sprache.
Das Poetische als Widerstand gegen Bedeutung.
8 C
Die erträumte Präzion der Sprache absoluter Objektivität.

9 A
Es besitzt etwas Wohltuendes, sich den Hass der Menge zu
verdienen. Keine Zugeständnisse zu machen.
9 B
Das Abhaken der letzten sinnlosen Riten (diese Attitude).
Eine schwachsinnige Melodie.
9 C
Es gibt keine Gleichheit politischer Diskurse. Ich bin verblüfft
über die allgemeine politische Gefügigkeit, die endlosen
Fluchtlinien des Ich in die je aktuellen Dispositive.

10 A
Zum Pariser Nachlaß von Benjamin gehören die Materialien,
die Giorgio Agamben 1981 in der Bibliothèque National fand.
Georges Bataille hatte Texte Walter Benjamins, u.a. auch die
Kommentare zu Gedichten von Brecht dort versteckt.
10 B
Die strategische Funktion des Kommentars. Ein Netz von
Verweisstrukturen.
10 C
» »Sinke doch ..« — Im Hoffnungslosen soll Fatzer Fuß fassen. Fuß,
nicht Hoffnung. Trost hat nichts mit Hoffnung zu schaffen. Und
Trost gibt Brecht ihm: Der Mensch kann im Hoffnungslosen leben,
wenn er weiß, wie er dahin gekommen ist. Dann kann er darin
leben, weil sein hoffnungsloses Leben dann wichtig ist.
Zugrunde gehen heißt hier immer: auf den Grund der Dinge
gelangen.« W. Benjamin: Aus dem Brecht-Kommentar, 509

11
Das Streben nach der Möglichkeit der Selbstüberschreitung
(dépassement du soi).

12 A
Ein Punkt von tausend Widersprüchen, in einem Kampf mit
umgekehrten Vorzeichen.
12 B
Rechte und Linke (eine empathielose Uniformität), die über
die ewige Mitte hin miteinander verschmelzen.
12 C
Dem Weltuntergang multiperspektivisch, wohlinformiert (in
Echtzeit) beizuwohnen.
12 D
Ein gewisses Spektakel des Zerfalls. Es ist die blödsinnige
Verzauberung, die der Untergang hervorruft.
12 E
Also die Erfassung des Unerträglichen im Zustand anhaltender
Banalität.
12 F
Als müßte man wahrhaft alles zerstören, was uns der Welt
emfremdet.
12 G
Es fehlt uns der Pessimismus die Welt zu retten.
12 H
Début de la fin. Angesichts einer auf ihn zurollenden Feuerwalze,
einem glühenden Tsunami aus Napalm, die ihn in nur wenigen
Augenblicken vernichten wird, fantasiert sich der Erzähler,
in der ihm verbleibenden Zeitspanne, ein Leben im Feuer
oder im Widerstand innerhalb eines alptraumhaften Anderswo.
»Alles sagen, alles erfinden, angesichts des Unaussprechlichen
nicht in Panik geraten.« So in: Antoine Volodine: Vivre dans le feu

13
Jeder ist ein Opfer im Traum des anderen (aus dem er allein
nicht heraus findet).

14 A
Als wärst  du von allem gleichzeitig erschöpfst, als würde jedes
Unglück dich ein wenig mehr auflösen oder etwas von dir
nehmen (diesen Rest oder Reserve). Die Verdopplung einer
Gegenwart, die dich umso mehr fordert, da sie in keine
Zukunft führt.
14 B
Es ist übrigens gleichgültig, was ich gesehen habe oder nicht
gesehen habe.

15 A
Die neuen Formen eines vollkommen reulosen Faschismus
(gefangen in einem Kokon bodenloser Einfalt, moralischer
Verdorbenheit).
15 B
Die ewig erneuerte Tugendhaftigkeit der Profiteure und
Priviligierten grenzenloser Selbstgefälligkeit, ihr
kleinlicher Neid.

16 A
Ich entwickele einen Hass auf das Schreiben, besonders
wenn man versucht, es ins Spiel zu bringen.
16 B
Es ist möglich hinter seinem Schreiben vollkommen zu
verschwinden.
16 C
Die Sprache ist völlig vergiftet.
16 D
Ein Mund der sich auflöst beginnt mit den Lippen.
16 E
Die fortlaufende Wiederholung der selben Traumgesten,
der poetischen Verschiebungen, zirkulierende Schleifen.
16 F
Ich kann mir nur eine Poesie der Krise vorstellen.
16 G
Zu glauben, wenn sich nur das Schreiben ändern würde,
sich auch das Leben ändere.
16 H
Der Dichter ist immer einsam. Er zeigt seine Ablehnung,
bloß um zu verweigern, sich von der Gesellschaft zu
distanzieren.

17
»Non possumus. Diese Unmöglichkeit oder Machtlosigkeit,
das selbst ist unsere Kraft […] Auf diese Weise zu reden, Nein
zu sagen, und diese Weigerung zu begründen, das bedeutet,
das Reden zu verweigern. […] Es ist unbedeutend, dass man
diese Haltung unrealistisch, ineffizient, idealistisch, rein negativ,
utopisch oder machtlos, anmaßend oder erbärmlich nennt. […]
Wir haben keine Wahl. Wir stehen mit dem Rücken zur Wand. «
Dionys Mascolo: Refus inconditionnel. Le 14. Juillet, N°2. 1958.

18 A
Die strikte Zurückweisung jedes Konformismus. In der
Konsequenz auch zur Routine des Nonkonformismus auf
Abstand gehen. Niemandes Parteigänger, vom Ort der
relativen Einsamkeit aus zu schreiben versuchen.
18 B
Es gibt auch die nicht-artikulierte Verweigerung.

19 A
Für M. Duras ist der Kommunismus keine Haltung des Geistes
oder der politischen Leidenschaft, sondern eine Tatsache. Die
erste Pflicht eines Revolutionärs, sagt sie, besteht darin, die
offiziellen Parteien zu bekämpfen. Und in Frankreich an erster
Stelle die PCF. Ihr Widerstand, ihre persönliche Abneigung
gegen allles, was im Namen des Staates verübt wird. 28
décembre, 1969, Radioscopie, France Inter, prod. Jacques
Chancel. PRD, ORTF.
19 B
1968 kann man im Rundfunk  den Aufruf Marguerite Duras’
zur Zerschlagung aller konventionellen Institutionen hören.
Sie sagt den vulgären Auswüchsen des Kapitalismus den
Kampf an, wendet sich gegen alles, was der westlichen
Welt hoch und heilig ist und spricht sich für die
Abschafffung des Staates aus.

20 A
Es besteht immer die Möglichkeit, sich für das zu öffnen,
was dir fremd ist.
20 B
Jemand stellt eine Frage und tausend andere Dinge sind
plötzlich von Interesse, noch bevor jemand antwortet.
20  C
Aber die Wahheit kann nicht aus den Worten kommen, denn
sie sind der Ort, an dem der Kampf ausgefochten wird.
20 D
Als ich schliesslich so weit bin, eine Antwort zu formulieren,
änderten sich plötzlich die Fragen.
20 E
Die Lügen der Dichter sind endgültig erschöpft. Von den
Schrecken der Gegenwart aufgedeckt — im Widerspruch zur
Poetik der Revolution.

21 A
Also spreche ich von der Vielfalt der Taktiken, die zu entfalten,
wir uns gezwungen sehen.
21 B
Denn es ist klar, »dass wir uns nicht gehören, dass diese Welt
nicht unsere Welt ist. Und dass sie uns nicht nur fremd ist,
wenn sie uns in ihrer Gesamtheit gegenübersteht, sondern
auch hinein bis in ihr kleinstes Detail.« Tiqqun, Théorie de Bloom
21 C
Egal wie gut das System das Ausmass seines Verfalls zu
verbergen vermag, jeder spürt, dass die Zeit gekommen ist.
21 D
Träume von einem winzigen Sarg in dem ein Ratte Platz fände.
Der Ausgestossene aber, ist ein Abfallprodukt der kapitalistischen
Gesellschaft (innerhalb einer rechtsfreien Zone/oder Grauzone).
21 E
Die gleiche zyklische Zeit, die ihre Trugbilder mit neuen
Betrügereien wiederholt.
21 F
Es gibt eine Vernunft, die man nicht mehr zu akzeptieren vermag.
Entscheidungen, denen man sich widersetzt. Es gibt eine Form
der Freiheit, die keine Komplizenschaft zuläßt.
21 G
Die Verweigerung liegt jenseits der Verzweiflung, der Enthaltung
oder des Selbstmords.

22
»Heute bedeutet der humane Streik, es / abzulehnen, die Rolle
des Opfers zu spielen.« Tiqqun, Contributions à la guerre en cours

23
Längst gibt es unendlich viele Möglichkeiten sich scheibchenweise
zu ruinieren, sich also umstandslos zu integrieren.

24 A
Es geht also nicht darum, Macht zu übernehmen als sie
vielmehr aufzulösen (pouvoir sans pouvoir), der Bruch mit der
Macht. In Affirmer la rupture (Comité, N° 1) schreibt Blanchot:
»dass wir uns im Kriegszustand mit dem befinden, was überall
und immer bloß in Bezug zu einem Gesetz ist, das wir nicht
anerkennen, mit einer Gesellschaft, deren Werte, Wahrheiten,
deren Ideal und Privilegien uns fremd sind, bloß einem Feind
gegenüber, der umso furchterregender ist, als er gefälliger
scheint, mit dem wir, das musss klar sein, in keiner Form, auch
aus taktischen Gründen nicht, jemals paktieren werden.«
24 B
Blanchot spricht von einem Zeitenbruch, einem
Gegenwartsmodus, in dem die Gesellschaft sich vollständig
auflöst und das Gesetz zusammenbricht. (in »Rupture du
temps: Révolution«; Comité, n°1). Der unmittelbare Bruch mit
den gesellschaftlichen Verhältnissen.
24 C
Im Nachlass von Dionys Mascolo wurde ein Brief gefunden, den
Mascolo, Maurice Blanchot zuschreibt und in dem die Gruppe
rund um die rue Saint-Benoit als eine Bewegung des radikalen
Bruchs beschrieben wird, »sicher gewaltsam, aber von einer sehr
beherrschten Gewalt und, in ihrem Endzweck kommunistisch,
wenngleich sie in einem unausgesetzten Protest die Macht und
alle Formen der Macht in Frage stellt. Sie tritt also wesentlich
als eine Bewegung der Weigerung in Erscheinung, die sich vor
jeder voreiligen Behauptung oder Programmatik hütet, denn
sie ahnt, dass in jeder Behauptung, wie sie von einer
notwendigerweise entfremdeten oder falschen Rede formuliert
werden kann, die Gefahr liegt, durch das etablierte System (das
der industriellen kapitalistischen Gesellschaften) vereinnahmt zu
werden: ein System, das alles in sich integriert, das Kulturelle
eingenommen, auch wenn es avantgardistisch ist.«

25 A
Alles beginnt damit, dass jemand Nein sagt.
25 B
Die Weigerung sich überhaupt irgend jemanden anzuschliessen,
kann zu einer Aktion werden.
25 C
Die Wahrheit einer unendlichen Verbindung, die nur Verbindung
ist, ohne auszuschliessen.
25 D
Die Frage nach den Möglichkeiten des Zusammenlebens bleiben
weiterhin völlig offen.

26 A
Anfang 2018 berichtet lundimatin von Untersuchungen des
französischen Inlandsgeheimdienst DGSI, die der Parti
Imaginaire und deren Veröffentlichungen in der Zeitschrift
Tiqqun eine systematische Ablehnung gegenwärtiger Politik,
einen  Abscheu vor dem System vorwerfen. Sie stufen sie als
eine subversiv literarische Bewegung mit revolutionärer
Ausrichtung ein. Einer Quelle (Zeuge T2666) zufolge, die
letzte literarische Bewegung, die in der westlichen Welt noch
aktiv ist. Als Vorläufer wird der belgische Surrealist Marel
Marïen angeführt (und der Einfluss, den sein Buch Théorie de
la révolution mondiale Immédiate, ausübt). Wesentliche
Tendenzen des Kollektivs sollen die real-viszeralistischen
Konzepte um die Dichter Roberto Bolaño und Mario
Santiago sein, sowie der Post-Exotismus Antoine Volodines.
26 B
Post-Exotismus bezeichnet eine Ästhetik, die darauf abzielt,
Kompromittierung mit der offiziellen, politisch kontrollierten
Literatur zu vermeiden, jede Form von Vereinnahmung
zurückzuweisen.
26 C
Ein feindlicher Leser ist ein schlechter Leser. Ein Leser, der
nicht weiß, wie das Werk zu lesen ist.
26 D
Volodine nennt sie Mülleimer-Literatur oder Literatur der
Obdachlosigkeit (das Gegenteil also einer Literatur, die man
in Schulen, Bibliotheken, in den Medien findet). Eine kleine
(imaginäre) Literatur (nach Deleuze/Guattari), die vom Tod
des Schriftstellers zeugt und Formen universeller Barbarei
vor Augen führt, in der Abfolge menschlich grausamer
Alpträume. Vom Faschismus zum Stalinismus und wieder
Faschismus eine endgültige Erschöpfung unserer
humanen und natürlichen Ressourcen und auf die
Vernichtung des Planeten oder zumindest auf eine Form
des Über-Lebens zusteuert, die viele für unvorstellbar halten.
26 E
In Lisbonne Dernière Marge (Les Éditions de Minuit, 1990)
ist die Literatur nicht Mittel zur Fortsetzung des Kampfes,
sondern vielmehr die Beschreibung des Versuchs der
Protagonistin, ihre Identität als Revolutionärin in einer ihr
feindlichen Umgebung aufrechtzuerhalten. Ihr Kampf ist
eine Antwort auf das Schweigen und Abstreiten, welches
auf die Gräuel des 2. Weltkrieges und den
Vernichtungslagern folgte.

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