die unsichtbaren verhältnisse

they say i was having a wank in the royal parks.
gunfire is a streetplan, i say. so is marx. so the type of equations they call pistol-whips.
sean bonney

 

 

im juni 1935 kurz nach mitternacht, als ein großteil der delegierten die riesige salle de la mutualité bereits verlassen hat, trägt paul eluard auf dem »internationalen schriftstellerkongress zur verteidigung der kultur« in paris, eine von andré breton verfaßte rede vor. es wird eine abrechnung mit einer zusehends degenerierten politik der kommunistischen partei frankreichs, die zu einem hilfstrupp der udssr und des stalinismus verkommen war und sich von dem ziel der befreiung der klassen und der vom kolonialismus unterdrückten völker entfernt hatte. die surrealisten lehnten den im vormonat beschlossenen sowjetisch-französischen beistandspakt ab, distanzierten sich von dem gerede von vaterland und patriotismus, den auswüchsen eines positivistischen rationalismus, verwahrten sich davor, den kritischen verstand einzubüßen. sie begriffen sich selbst als eine bewegung der revolte, die sich im aufstand gegen eine bourgeoisie, eine kapitalistische gesellschaft  und ihrer kruden moralvorstellungen etablierter werte definierte. der kommunismus war für sie eine versprechung diese welt durch eine gerechtere welt zu ersetzen. schon 1925 hatten sie mit dem pamphlet »zuerst und immer die revolution« im bewußtsein einer steten, inneren desertion, die zukünftigen gewaltsamen aufstände als eine unabwendbare reaktion auf den durch die politik erniedrigten geist beschrieben. sie waren von der notwendigkeit eines libertären, poetischen kommunismus, in folge eines sozialen und ökonomischen umsturzes überzeugt, der eine gesellschaft nach ihren vorstellungen zu verwirklichen imstande sein würde. einer interpretation der welt, die stets auf die veränderung der welt ausgerichtet sein muss, dem vordringen des geistes in noch unerforschte gebiete. bretons manuskript für den schriftstellerkongress endete mit den worten: »die welt verändern«, hat marx gesagt; »das leben ändern«, hat rimbaud gesagt: die beiden losungen sind für uns eine einzige. die avantgarden haben nie gezögert die alten bildräume hinter sich zu lassen. die geste der zerstörung verknüpften sie mit der hoffnung, das reale (ohne die kunst zu opfern) in besitz nehmen zu können, der konzeption einer ästhetischen militanz. 

 


der britische dichter sean bonney hielt das werk rimbauds und insbesondere une saison en enfer für unverstanden, wenn man es nicht gleichzeitig mit dem kapital von marx lese. politische vorstellungskraft, die in momenten revolutionärer zeiten gefordert sei, müsse den dichter dahin führen, sich der sprache seiner gegner zu bemächtigen, aus ihr eine waffe zu machen, die vorherrschenden gesetze des denkens umzustürzen. objektive dichtung, die jenes »heute« (in all seiner komplexität) wiedergibt. in den augenblicken politischer niederlagen, wenn die revolution in die poesie zurückfällt. der inszenierung radikaler gegenwart. aus der sichtweise des individuums bietet die wirklichkeit immer einen schrecklichen anblick. in der idiomatischen beschreibung einer methode. dem transport der stimmen. dem unstillbaren nachholbedarf der wirklichkeit selbst. es sind die höllenmaschinen der anarchisten (in jeder von ihnen tickt eine uhr, wie walter benjamin in den paralipomena zum surrealismus festhält), die dissonanten ausbrüche utopischer freude, so bonney — mögen sie auch nur wenige momente andauern — die barrikadenkämpfe, die schriften blanquis, rimbauds, lautréamonts, césaires und einer milionen anderer, die die kapitalistische harmonie zu sprengen imstande sind. etwas, wovon wir jahrhundertelang geträumt haben. das imaginäre, das sich anschickt real zu werden. der traum nämlich ist ein zweites leben, hat nerval gesagt. 


 

was rimbaud antrieb, der sein werk in nur 5 jahren zwischen seinem 15. und 20. lebensjahr geschrieben hat, läßt sich in den augen der surrealisten nicht ohne sein einstehen für die pariser kommune im frühjahr 1871 begreifen. später, während seiner aufenthalte in london, bei denen er im austausch mit den exilierten kommunarden andrieu, vermersch oder lissagaray stand, hielt er an den ideen der kommune fest, genauso wie an dem hass auf sein heimatland. seine gedichte evozieren neben dem offensichtlichen ausdruck der verachtung bürgerlicher ordnung, die verfassung eines poetischen kommunismus (ernest delahye hatte in seinen erinnerungen von »rimbaud dem bolschewiken« gesprochen). die idee eine welt mithilfe einer neuen sprache allumfassender inspiration zu entwerfen (der alchemie des wortes): rimbauds notwendige verschmelzung seines poetischen projekts mit seinem existenziellen projekt. die poesie (die notfalls ohne gedichte auskommt) geht der aktion voraus, sie ist der verstärker des unbekannten. breton erinnerte daran, dass rimbaud nicht bloß der jugendliche kommunarde, verweigerer und saboteur gewesen sei, sondern auch der dichter, der den »lettre du voyant« geschrieben hat (man muss absolut modern sein, während die poesie eine richtung einschlägt, die nicht verhandelbar ist). die revolte begriffen die surrealisten als eine der poesie innewohnende dynamik. sie waren (neben walter benjamin) die einzigen, die versucht haben, rimbaud und marx zusammenzubringen, kunst und politik, poesie und revolution, die stets als gegensätze gedacht wurden, zu vereinen. mit den enormen politischen und sozialen veränderungen, die mit dem ende des 1. weltkriegs einhergingen, wuchs im laufe der jahre ihr interesse für den marxismus in der auseinandersetzung mit der russischen revolution, den arbeiten lenins und trotzkis, der lektüre hegels. im zweiten manifest des surrealismus 1930 bekannten sie sich ausdrücklich zu einem revolutionären marxismus, ohne sich darauf jedoch reduzieren zu lassen. die wahlverwandtschaft zwischen den beiden revolutionären polen des 19. jahrhunderts, marx und rimbaud, geht mit einer ablehnung der herrschaft des geldes, der religion und des kolonialismus einher, mit der kritik an der ideologie des fortschritts und zeichnet (ähnlich dem anthropologischen materialismus walter benjamins) eine grundsätzlich romantische definition des künstlers und dichters, ohne sich auf die literarische epoche der romantik des 19. jahrhunderts zu beziehen, als vielmehr auf eine theorie der erfahrung, die nicht hinter ihre eigenen ideen zurückfällt. als protest gegen die sich ausbreitende kapitalistische »weltentzauberung«. die romantische imagination, in der tradition eines georg büchner, den sozialistischen utopien charles fourier, bis hin zu den arbeiten rimbauds und lautréamonts, die sich mit den allgemeinen (mitunter geheimen) anziehungskräften der materie verbindet. die aufhebung der antithese von natur und geschichte mittels einer  »profanen erleuchtung«. oder wie baudelaire es formulierte, »in einer welt, in der die tat nicht die schwester des traumes ist, möchte ich nicht leben«. 

 


eine art gegengeschichte — ist das die poesie? rimbaud schrieb für seine zeit (und weit darüber hinaus) die verfassung des poetischen kommunismus. er offenbarte die gräuel einer glücksbesoffenen gesellschaft im rausch ihrer zerstörungen, bilder nutzloser lebensformen. von den logischen massakern inspiriert (einer terroristischen logik), verfolgen wir 150 jahre später das kurze rote flackern zersprengter illusionen. die grabreden zahllos falscher zeugen, die verlogenheit unendlich komprimierter propagandisten. insektengeschwätz. verschiebungen realer konstellationen von semiotik und lügen. nehmen sie nur mariupol oder charkiw. denken sie an das odessa eisensteins. ein krüppel ohne beine winkt. aus der gruppe der zur hälfte zusammengeschossenen. zerstörende techniken des unsichtbaren, der giftmischer gefälschter zertifikate. ein toxisches pharmakon, bei dem allein die herkunft über leben und tod entscheidet. als würde man eine grenze mitten durch ein gesicht ziehen. ein patriarch mit durchschnittener kehle dreht sich im kreis — er darf nicht bleiben. während sich das zeitfenster eines allerletzten flucht-korridors zu schliessen beginnt, wird der tod ein- und austreten. umrisse harmloser schatten. nimm dies als beweis.


 

eine vielzahl linker intellektueller nahm in den 1930er jahren ein positive, symphatisierende haltung gegenüber der udssr und dem kommunismus ein, die jedoch mehr einem gefühl der verpflichtung gegenüber der partei als gegenüber der revolution ausdruck verlieh. die unfehlbarkeit der kommunistischen parteien, der unbedingt revolutionäre charakter des proletariats waren für sie eine selbstverständlichkeit, die sie nicht hinterfragten. im anschluss an den kongress in paris 1935 verfaßten die surrealisten einen aufruf, der nämlich ihre position, in opposition zum herrschenden regime in der sowjetunion unter stalin zu stehen, die losungen und parolen der kommunistischen internationale nicht kritiklos aufzugreifen, nochmals unterstrich, und an der notwendigkeit einer veränderung der gesellschaft mittels einer proletarischen revolution umso eindrücklicher festzuhalten. (1936 erklärten die surrealisten die anklagen und urteilssprüche der moskauer prozesse als abscheulich und unsühnbar. »der mensch (d.i. stalin), der es so weit getrieben hat, ist der grosse verneiner und ärgste feind der proletarischen revolution. wir müssen ihn mit allen uns zu gebote stehenden mitteln bekämpfen,  wir müssen in ihm — der darauf aus ist, nicht nur die bedeutung des menschen, sondern auch die geschichte zu verfälschen — den gegenwärtig übelsten falschspieler und den unentschuldbarsten mörder sehen.«)

 


aimé césaire hat 1950 in seinem discours sur le colonialisme mit hilfe des weitblicks lautréamonts vor augen geführt, dass der mensch der kapitalistischen gesellschaftsform (in seiner kannibalistischen ausprägung) das monstrum unserer zeit darstellt. lautréamont, der am vorabend der pariser commune verschwand, ist neben rimbaud, einer der beiden dichter, den die kommune hervorgebracht hat. césaires discours, die zündvorrichtung im mund des dichters, die die herrschenden zum verstummen bringt. ein paar jahre vorher hat césaire mit der veröffentlichung seines essays poésie et connaissance in der zeitschrift tropiques aufgezeigt, dass poesie eine quelle von erkenntnis und revolte zu sein vermag. der grosse sprung ins poetische nichts. die rache des dionysos. dichtung als zumutung verschlüsselter botschaften und codes. aus der idee erlittener sprache. und ihrer übersetzungen. autopsieberichte, die sich wie punkte auf einer karte lesen, den aufgedeckten stellungen des feindes. angelockt aber von geisterhaften signalen und magischen beschwörungen (dem »zornigen gebrumm der fliegen«), dem aufwühlen der seelen, existieren die unaufhörlichen transformationen poetischer inspiration weiter, was walter benjamin im sürrealismus-aufsatz evoziert, wenn er von der notwendigkeit »esoterischer« poesie spricht, geheimes wissen in revolutionäres wissen umzuwandeln. und allen formen von abgrenzung und polarisierung entgegensteht: wir sprechen nicht dieselbe sprache.


 

benjamin hob 1929 in seinem essay »über den sürrealismus« (der zeitlich zwischen seiner moskaureise und dem bedeutsamen zusammentreffen mit brecht liegt und ihn schliesslich zu der arbeit am passagenwerk führt) den von den surrealisten praktizierten pessimus als antithese zum skrupellosen amateuroptismus eines jedermann hervor, nach dem jeder lebt, als wäre er frei. er erkannte in den surrealisten die erben von marx und engels, die die forderungen des kommunistischen manifests verstanden hatten und eine vorstellung radikaler freiheit entwickelten, das falsche gleichgewicht, das in der welt herrschte, zu verändern. einerseits forciere der surrealismus die zerschlagung des ästhetischen, andererseits fordere er die anbindung an das primat der politik und den daraus resultierenden revolutionären handlungen. benjamin hielt in seinem pariser tagebuch fest, dass der surrealismus die sabotage in immer breitere gebiete des öffentlichen und privaten lebens vorangetragen habe, »bis endlich die politische richtigkeit dieser haltung, ihre scheidende, mehr: ihre ausscheidende gewalt offenkundig und wirksam wurden.« »die kräfte des rausches für die revolution zu gewinnen«, ein durch poetische illuminationen erschlossenes terrain (des nächsten und fernsten) schrittweisen erkenntnisgewinns der allergrößten anziehungskraft. 

 


es ist das unvorhersehbare, das archipelische denken, das sich durch die texte des karibischen dichters édouard glissant zieht, dessen poesie der weite jede kategorisierung fremd ist. ein rhizomatischer prozess des schreibens, der im austausch und dialog zustande kommt. den texturen geheimer beziehungen.  bestimmte (elektrifizierende) punkte im geist, die das widersprüchliche, das gesagte und nicht gesagte (den »scheinbar bedeutungslosen lärm«), vergangenheit und zukunft im hervorbringen von differenzen, gegenüberstellt. und so das denken des anderen (oder das andere denken) mit dem eigenen in beziehung setzt. das gedicht, das sich als gegenwärtigkeit der welt versteht, — das utopische, prozess eines kontinuierlichen dialogs — und die starre kategorisierung des denkens ablehnt. das funkeln der sprache, das sich ähnlich gespenstern durch die menschen hindurchbewegt. ein anhaltendes glühen in den abgedunkelten zonen unserer städte.


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